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Erinnern allein nützt nichts...

Zum dritten Jahrestag der Brandanschläge von Mölln führte Dieter Boßmann vom Bildungswerk "anderes lernen e. V.", Eckernförde, ein Interview mit Sebastian Lehmann, dem Vorsitzenden des Möllner Vereins "Miteinander leben e. V.". Das Interview wurde im November 1995 in der Zeitschrift "Gegenwind - Politik und Kultur in Schleswig-Holstein", Nr. 86, veröffentlicht.

Dieter Boßmann: Angenommen, Du machtest am 23. November 1995 in Mölln eine Straßenumfrage: "Was sagen Ihnen die Namen Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayse Yilmaz?" Welche Antworten bekämst Du?

Sebastian Lehmann: Das Ergebnis wäre wohl eher deprimierend. Während der Brandanschlag an sich präsenter Bestandteil der Möllner Geschichte ist, bleiben die Opfer selbst anonym. Hierzu trägt auch bei, daß es bisher keine Gedenktafel o. ä. gibt, die bewußt auf die Menschen hinweist, die in der Nacht zum 23. November 1992 in Mölln ums Leben kamen.

DB: "Mölln fühlt sich unschuldig", so die "Zeit" im Dezember 1992, "wie soll eine kleine Stadt denn verhindern, daß sich spät in der Nacht ein paar Leute von irgendwoher anschleichen und ein Feuer legen? Das könnte doch überall passieren." Es ist aber nicht "überall" passiert und die Täter kamen nicht von "irgendwoher"... Der Name "Mölln" als Synonym für Haß und Gewalt - wie fühlt sich Mölln drei Jahre später?

SL: Die Meinung, daß die Brandanschläge auch woanders hätten stattfinden können, ist nach wie vor weit verbreitet. So zynisch es ist: Die Anschläge von Solingen und Lübeck wurden von manchem mit heimlicher Erleichterung aufgenommen, zeigten sie doch, daß Mölln "gar nicht so schlimm" ist. Diese Haltung kommt auch häufig als Kritik am Verein durch: Wir würden Mölln pauschal als "braunes Nest" darstellen. Die Antwort hierauf ist vielschichtig: Zum einen kann Mölln nicht losgelöst vom bundesweit verbreiteten Hetzklima gegenüber Ausländern, wie es 1992 vorlag, gesehen werden; auf der anderen Seite hat Mölln tatsächlich eine braune Vergangenheit, wie die Wahlergebnisse für die NSDAP und ihre bundesrepublikanischen Nachfolgeparteien zeigen. Selbstkritische Rückschau, welches Klima in Mölln vor den Brandschlägen vorlag, ist daher sicher angebracht.

DB: Erinnern allein nützt nichts, selbst wenn "Mölln" zum künftigen Erzählrepertoire von Großeltern promoviert. Was müßte hinzukommen?

SL: Änderungen gelingen nur mit positiven Ansätzen, die zeigen, daß es auch anders geht. Überbetonte Rückschau verkommt allzuschnell zum moralischen Zeigefinger und führt zur Resignation. Wenn wir dagegen auf Musikveranstaltungen, Begegnungsfesten, Informationsabenden usw. zeigen, daß es sogar Spaß macht, miteinander umzugehen und voneinander zu lernen, dann fühlen sich Menschen ermutigt, aufeinander zuzugehen. Damit soll Erinnerungsarbeit nicht abgewertet werden: Sie ist notwendig, um daraus zu lernen.

DB: Mit dem Brandanschlag hatte der Rassismus ja nicht nur ein Ende, sondern auch einen Anfang...

SL: Die Bundesrepublik hat mit Mölln endgültig ihre Unschuld verloren; und in den Köpfen vergifteter Jugendlicher hatte Mölln durchaus auch Signalwirkung. Die Frage, ob Solingen ohne Mölln, ob Mölln ohne Rostock hätte stattfinden können, läßt sich so sicher nicht beantworten. Mölln war aber auch der Anfang einer neuen Auseinandersetzung mit Rassismus. Für viele Menschen war damit der Schlußpunkt erreicht, sie überwanden ihr Schweigen und gingen auf die Straße, organisierten Lichterketten, bildeten Nachbarschaftsinitiativen.

DB: "Mölln" als Ergebnis vergifteter Jugendlicher? In Rostock, Hoyerswerda haben Erwachsene Beifall geklatscht...

SL: ... nicht nur Beifall geklatscht, sondern auch aufgestachelt und angestiftet. Das soll die Täter nicht entschuldigen, sondern darauf hinweisen, daß es "geistige Brandstifter" gibt: Alt-Nazis und Biedermeier mit rechter Gesinnung, Politiker, die eine Asyl-Debatte als Ablenkungsmanöver entfachten, einfache Leute, die einen Sündenbock für ihre sozialen Probleme suchten. Das gesellschaftliche Klima 1992 war "ausländer"-feindlich und vom "Fremden"-Haß geprägt und Rostock und Mölln waren das grauenvolle Ergebnis.

DB: "Das Klima hat sich geändert", betitelte 1994 die Hamburger Rundschau ein Interview mit Dir über den "Wandel der Stadt" nach den Brandanschlägen. Was gilt heute?

SL: Es gibt viele, die ihre versteckte Ablehnung bewahrt haben. Im Unterschied zu früher geben sie jedoch nicht mehr den Ton an, sondern sind in der Defensive. Während sich früher diejenigen rechtfertigen mußten, die sich für Toleranz und Miteinander aussprachen, sind es heute diejenigen, die immer noch von der Asylantenflut schwatzen.

DB: Am 23. November 1992 äußerte der achtjährige Bürgermeistersohn: "Papi, in einer solchen Stadt möchte ich nicht mehr leben, wenn das so weitergeht. Auch nicht in einem solchen Land." Arbeitet Bürgermeister Dörfler heute mit Euch daran, daß der Wunsch seines Sohnes in Erfüllung geht?

SL: Ein Bürgermeister muß es allen recht machen, darf niemandem weh tun und möglichst kein Geld ausgeben. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch Bürgermeister Dörfler: Einerseits steht er der Vereinsarbeit positiv gegenüber und versteht sich als Förderer der geplanten Begegnungsstätte in Mölln, andererseits muß er auch "offen" sein für die Bedenken der Touristikbranche, die mit Mölln lieber Till Eulenspiegel und nicht die Brandanschläge verbinden möchte.

DB: Der israelische Historiker Yehida Bauer nennt drei übergeordnete Lehren aus dem Holocaust: "Du sollst kein Opfer sein! Du sollst kein Täter sein! Vor allem aber: Sei kein Zuschauer!" Kann so der politische Vereinszweck von "Miteinander leben" umrissen werden?

SL: Ich habe Schwierigkeiten mit dem Begriff "politischer Vereinszweck", dies wird oft parteipolitisch gesehen. Gerade die Abkehr von Parteipolitik ist ein wesentliches Vereinsmerkmal: Bei uns arbeiten CDU-Mitglieder mit Leuten von Bündnis 90/Die Grünen zusammen, treffen sich Konservative mit Alt-68ern und Antifa-Jugendlichen. Wichtig ist uns der gesellschaftspolitische Integrationsansatz über Parteigrenzen hinweg. Die Zuschauerrolle aufzugeben, sich einzusetzen, zu zeigen, daß Miteinanderleben möglich ist, ist das Selbstverständnis des Vereins.

DB: "Kein Vergeben - Kein Vergessen" stand auf einem Transparent der Möllner Antifa auf einer Demo im November 1992. Würde sich "Miteinander leben" heute hinter einer solchen Parole versammeln?

SL: Nein. Dieser Standpunkt ist mir viel zu statisch, läßt keinen Raum für Veränderungen. Was sollen wir tun, wenn ein Neonazi ins Vereinsbüro kommt und sagt: "Leute, ich seh' ein, das ist Mist, kann ich bei Euch mitmachen?" Sollen wir ihn mit "Kein Vergeben - kein Vergessen" konfrontieren!?

DB: Angenommen, Lars C. und Michael P., die Mörder von Mölln, kämen nach ihrer Haftverbüßung ins Vereinsbüro. Gäb' es aus Deiner Sicht mit den beiden ein Miteinander-leben?

SL: Lars und Michael sind ebenfalls Opfer. In dem eingangs erwähnten "Zeit"- Zitat wird formuliert: "... und wie sich herausstellt, sind die Täter keine Fremden, sondern die eigenen Kinder". Das bringt es auf den Punkt: Sie sind Kinder unserer Gesellschaft. Wir können nicht so tun, als hätten wir keine Verantwortung für die Ereignisse, sondern müssen uns fragen: Wo haben wir versagt? Ich würde jede Chance wahrnehmen, mit Lars und Michael einen Weg des Miteinanderlebens zu finden.

DB: Wie steht's um den Verein, wie geht es weiter?

SL: Ein wichtiges Projekt ist der Aufbau einer Begegnungsstätte in Mölln: als offenes Haus für Aktivitäten gegen Haß, Gewalt und Rassismus. Der Verein erhält dafür von der Stadt Mölln im Rahmen einer Schenkung ein Gebäude hinter dem Brandhaus. Für die Sanierung, Renovierung und Inneneinrichtung sind wir selbst verantwortlich.

DB: ... und wie wollt Ihr das schaffen? 

SL: Wir haben Spendengelder und Finanzierungszusagen in Höhe von 60.000 DM, benötigen jedoch rund 400.000 DM. Wir sind daher dringend auf Geld- und Sachspenden angewiesen. Durch Eigenleistungen versuchen wir, die Kosten erheblich zu senken. Junge Leute aus verschiedenen Ländern haben unentgeltlich an der Begegnungsstätte gearbeitet. Außerdem opfern hierfür viele Vereinsmitglieder ihre Freizeit.